Photo Athen 2008, Εικόνα Αθήνα 2008 |
Ein Freund fragte direkt nach der Wahl und ich antwortete.
1.
Wen hast du gewählt?
- Ich habe leider nicht wählen können, ich lag krank im Bett und eine Briefwahl gibt es nicht.
2.
Das ist doch keine häufige Frage!
- Bei den Griechen schon. Auch vor der Wahl fragen sich gegenseitig die Leute, wen man wählen wird. Bis vor einigen Jahren gab es in Griechenland eine Zwangswahl. Das heißt, man musste wählen, wenn man unentschuldigt (also nicht z.B. durch Krankheit) der Wahl fern geblieben war, wurde ein Ausreiseverbot über jemanden verhängt. In der Schule habe ich zusammen mit allen anderen gelernt, dass im Alten Athen, jeder Bürger Farbe bekennen musste, und dass diejenigen, die es nicht taten, Opportunisten und Verräter waren, die sich nach der Wahl dem Wahlsieger oder nach dem Bürgerkrieg dem Sieger anschlossen und wenn ich mich recht erinnere, sogar daher aus der Stadt gebannt wurden. Ein Bürger also, der nicht sein ihn als Bürger bestimmendes Recht ausübt, ist kein Bürger. Wahlabstinenz bedeutet traditionell daher eine Schädigung der Demokratie und wurde daher per Gesetz verboten. Darüber zu reden, wen man wählt, ist also ein Bekennen in nicht-Opportunismus, in die freie Wahlentscheidung, auch wenn man dann einer Minderheit, den Verlierern, angehört und es ist der Anfang der politischen Diskussion. Das Farbe Bekennen verstärkt jedoch auch eine Polarisierung oder sogar Spaltung der Gesellschaft, wie dies auch bei dieser Wahl der Fall war. Seit einigen Jahren hat die EU gemeint, dass die Zwangswahl nicht demokratisch sei und demnach wurde sie abgeschafft. Das hat die Griechen nicht sonderlich gestört.
3.
Und wie ist es jetzt mit der Wahlbeteiligung?
- Die Wahlbeteiligung sinkt seitdem von Wahl zu Wahl. Das erste Mal waren einige Demokraten schockiert. Jetzt haben sich die Leute dran gewöhnt. Dieses Mal lag sie bei einer Rekordtiefe von 36,13 Prozent.
4.
Wer ist Syriza?
- Die Frage wird jetzt nicht mehr gestellt, da die deutschen Medien seit einigen Jahren unisono beantworten: Linksradikale. Kaum jemand weiß weiter, wer Syriza ist, oder wofür die Syriza-Leute einstehen. Dies hat auch damit zu tun, dass die deutschen Medien keine gute Arbeit geleistet haben. Nicht nur in strengem Sinne journalistisch, sondern auch in ihrer Funktion als Mittler. Und da dies mein erlernter Beruf ist, ein paar Worte zur Übersetzung von Sprache und Kultur. Im Deutschen bedeutet linksradikal gleich linksextrem. Radikal ist jemand von extremen Ansichten. Im Griechischen bedeutet das Akronym Sy.Riz.A. wortwörtlich: Koalition der radikalen Linken. Radikal (Griechisch rizospastis: (mit seinen) Wurzeln brechend) im Griechischen bedeutet allerdings nicht extrem. Der Radikale ist derjenige der von Grund auf (vor allem) denkt. Linke Parteien werden traditionell progressiv und „radikal“ im griechischen Sinne bezeichnet, da sie mit alten Strukturen „brechen“ wollen, und die Dinge „komplett“, „von Grund auf“ überdenken möchten. Im Griechischen gibt es den Begriff rechtsradikal daher auch nicht, man spricht nur von einer Extremen Rechten. Richtig im deutschen Politjargon wäre daher, Syriza als ein progressives, linksalternatives Bündnis zu betiteln, noch akkurater als die gemäßigte, proeuropäische, linksalternative und grüne Partei Griechenlands. Die deutsche Bezeichung linksradikales Bündnis ist falsch, irreführend und tendenziös.
5.
Proeuropäisch? Gemäßigt? Grün?
- Ja. Der erste Stamm der Mitglieder waren abgespaltene Mitglieder der KKE, der Kommunistischen Partei Griechenlands, die vor der Wende nicht dem prosowietischen Kurs der KKE folgten und einen pro-europäischen schlugen. Dann kamen die Grünen dazu und allmählich weitere Linke, weitere ehemalige KKE, weitere Grüne, pro Asyl-Leute, Menschenrechtler, Immigranten, Gewerkschafter, Feministinnen, LGBT-Rechtler, Alternative im weiteren Sinne. Als letzte kamen in den Krisenjahren eine Menge ehemalige Pasok-Mitglieder, also Sozialdemokraten. Zum ersten Mal sah man in einer Wahlsiegerversammlung in Griechenland die Regenbogenfahne. Das ist ein Signal gegen den Faschismus und die Neonazis, das wahrgenommen wird. Ein erster Lichtblick.
6.
Also eigentlich sollten sich auch die Grünen hier über den Wahlsieg
freuen und nicht nur die Linke, oder?
- Ja, so ist es. Und viele andere auch.
7.
Und was soll jetzt diese Koalition „im Eiltempo“ mit den
Rechtspopulisten? Ist das nicht eine „befremdliche Koalition“?
- Die An.El. „Unabhängige Griechen“ sind ehemalige Nea Dimokratia Leute, die den Sparkurs, im Griechischen wird eher von Ausverkauf geredet, nicht folgen wollten. Sie sind allerdings höchstens genauso rechtspopulistisch wie die ehemalige Regierungspartei – deren Chef Samaras neulich im Wahlkampf sagte, Syriza könne doch nicht ernsthaft nach Charlie Hebdo behaupten, Migranten willkommen zu heißen – nur dass sie dezidiert der korrupten, unpopulären Regierung nicht folgen wollten. Dies haben sie sehr früh getan, es sind also keine Opportunisten. Im Eiltempo, wie wieder tendenziös von der Tagesschau/Heute berichtet wurde, wurde diese Koalition nicht geschmiedet. Wie in dem Beitrag der Tagesschau/Heute schon ein griechischer Bürger äußerte, war bereits im Wahlkampf klar und für jeden unüberhörbar geäußert worden, dass die Anel bereit waren, mit der Syriza zu koalieren und unter welchen Bedingungen. Ebenfalls unüberhörbar war, dass von den anderen Parteien, die ins Parlament eingezogen sind, keine andere Partei bereit war, mit Syriza zu koalieren. KEINE. Ja, ich weiß, hier wurde berichtet, dass To Potami, in Frage käme. Pustekuchen! To Potami flüsterte (so richtig gehört hatte es keiner, aber es wurde so berichtet) nach der Wahl sie wären vielleicht bereit zu koalieren, wenn Syriza die Wirtschaftspolitik der Vorgängerregierung fortsetzen würde, aber dann vielleicht doch nicht. Syriza hatte also nicht die Wahl, wie manche schreiben oder sagen, einen Koalitionspartner zu suchen und hat ausgerechnet die Anel gewählt. Es gab keine andere Wahl. Aber dennoch, ein schlechter Koalitionspartner sind die Anel nicht. Es ist also keine „befremdliche Koalition“ wie der Präsident des EU-Parlaments, ebenfalls entweder ignorant oder als schlechter Verlierer sagte, beides spricht nicht für ihn, die EU-Organe oder für die SPD. Ferner gab es keine geheimen Verhandlungen, wie die deutschen Medien berichteten, um diese Koalition zu diskreditieren, sogar direkt nachdem sie jenes Interview mit jenem griechischen Bürger zeigten, der das Gegenteil bestätigte. Eine beschämende Kommentierung seitens der deutschen Nachrichtensprecherin. (Übrigens ich hielte es für einen schlechten Witz als bei der Tagesschau am Wahlabend als erstes eine wahrscheinlich betrunkene, jedenfalls völlig erheiterte, blondierte Griechin, mit Cola-Light-Mischgetränk den Wahlsieg als erste von zwei Bürgern kommentieren sollte.) Die einzigen Bedingungen für eine Regierungsbeteiligung der Anel liegen hauptsächlich im Bereich der Verteidigungspolitik und sind nicht der Hauptschauplatz der Syriza-Anliegen. Darüber hinaus unterstützen die Anel voll und ganz das Hauptanliegen der Syriza nach einer Beendigung des Kaputtsparens und des Ausverkaufs bzw. ist es ihr Gründungsanliegen. Dafür wurde Syriza hauptsächlich gewählt und daher ist diese Koalition die beste, um viel in dem Bereich zu erreichen. Also das „Eiltempo“ war nur möglich, weil es bereits vorbereitet war, und das ist sicher kein Manko, sondern löblich. Es ist richtig gut, dass die Regierung sich gleich an die Arbeit macht, es gibt keine Zeit zu verlieren. Ein Lichtblick. Vielleicht aber ist es eher ein Zeichen von Schlechten Verlierern, wenn man enttäuscht ist, dass der Sieger gleich zur Sache geht und nicht Zeit durch noch ein paar Propaganda-Berichten und Worten von den Europäischen Konservativen gewonnen werden kann. Tsipras und seine Schnelligkeit hat sie überrascht und ihnen missfallen. Samaras selbst war nicht überrascht, er hat das Premierministerbüro komplett geräumt übergeben; er hat noch nicht einmal einen Bleistift sozusagen am Montag Nachmittag drin gelassen. Der Tresor war geöffnet und leer. Er hat auch nicht wie das Protokoll und die Höflichkeit gebührt, eine formelle Übergabe gemacht, er war am Montag einfach nicht mehr da. Ein eindeutig schlechter Verlierer.
8.
Aber was ist mit allen anderen Anliegen von Syriza und Anel, „gab
es denn überhaupt Koalitionsverhandlungen“?
- Diese Frage seitens der Tagesschau/Heute soll suggerieren, dass bei den Griechen unseriös zugeht. Ich habe bereits bei der vorigen Frage dazu teils geantwortet. Noch ein paar Hintergründe dazu: Wie bereits über das griechische Wahlsystem erfahren, unterstützt das System Ein-Partei-Regierungen, Koalitionsregierungen sind eigentlich nicht vorgesehen und im Regelfall auch nicht gewollt. Es gab daher nur in absoluten Notsituationen Koalitionsregierungen und sie alle einte eins: Gefahr im Verzug. Ich hoffe, es ist allen klar, dass z.B. mehrere vorgezogene Wahlen, eine Spaltung der Gesellschaft, extreme Spannungen und wütende und mordende Nazis täglich auf den Straßen, eine äußerste Notsituation sind. Es ist begrüßenswert und auch den beiden Parteien hoch anzurechnen, dass sie bei diesen erneuten vorgezogenen Wahlen, schnell und klar sich bereits im Wahlkampf geeinigt haben, dass sie, wenn nötig, koalieren würden und der abgewählten und bis zu den Knochen korrupten Regierung nicht durch eine neue Koalition zum Weitermachen verhelfen. Denn das wäre die Alternative. Ein dritter Lichtblick.
9.
Was hältst du von der Syriza-Regierung? Die Linken haben so viel im
Wahlkampf versprochen, es kann nicht sein, dass die Griechen wirklich
glauben, dass Syriza ihnen hilft. Die EU hat bereits gesagt, dass mit
ihnen keinen Schuldenschnitt zu machen ist.
- Manche werden sicher glauben, dass mit Tsipras der Messias kommt. Die Meisten jedoch hoffen, dass es jetzt etwas besser wird, dass der Untergang etwas angehalten wird. Die meisten sind pragmatisch und freuen sich auf kleine jedoch aufgrund des bisherigen Sumpfs bedeutende Lichtblicke. Die Stimmung im Land war mittlerweile katastrophal, überall Verelendung und Depression. Auch wenn es manchen nicht schlechter durch die Krise ging, war die Stimmung so erdrückend, dass auch sie depressive Verstimmungen zeigten. Diese Stimmung war auch ein Resultat der Ohnmacht und Angst, die die Menschen fühlten, dass sie nichts, auch nicht mit ihrer Stimme, mehr selbst bestimmen würden. Die Propaganda aus dem Ausland und Inland war erdrückend und weckte paranoide Ängste z.B. vor einer Diktatur. Der Wahlsieg von Syriza beendet diese katastrophale Rhetorik, die die Menschen demoralisierte, deprimierte und verängstigte.Der erste Tag nach dem Syriza-Wahlsieg war voller Lichtblicke, Signale gegen die Neonazis und für ein aufgeklärtes Griechenland, Signale, die tatsächlich etwas Hoffnung spenden: Tsipras leistete als allererster Premierminister seinen Eid nicht auf die Bibel. Nein, Syriza wird in diesen vier Jahren nicht die Trennung von Staat und Kirche vollziehen können, aber das Signal ist ein wichtiges, in einem Land, in dem niemand die Kirche kritisieren darf, die steuerfrei schaltet und waltet, deren mancher Bischöfe Faschisten und Nationalisten befeuert und Teile deren Klerus´ Hassbotschaften aussendet. In diesem Land unter der Regierung der Schwesterpartei der CDU, Nea Dimokratia, ist ein harmloser Satiriker im facebook, namens Alter Pastitsios in Anlehung auf den neuesten selig gesprochenen Mönch, den Alten Paisios, zu mehrere Monate Haft für seine Satire verurteilt worden.Tsipras legte als allererstes einen Blumenstrauß an das Denkmal für die von den Nazis erschossenen Kommunisten. Die griechischen Kommunisten waren diejenigen, die das Land gegen die Allianzmächte und die Achse zu 80 Prozent befreiten, allerdings gezwungen wurden zu kapitulieren, damit England eine Regierung von Kollaborateuren und Monarchisten einsetzen konnte. In der Geschichtsschreibung jener Regierung und der nachfolgenden Regierungen wurde die Leistung der Kommunisten nicht erwähnt oder geleugnet, der Faschismus, der anschließende Bürgerkrieg und auch alle andere Folgen sind bis heute trotz ihrer evidenten Auswirkungen auf die Gesellschaft nicht aufgearbeitet. Tsipras' Geste ist ein klares Signal gegen die Neonazis, die während der Krise aus diesem nicht historischen Bewusstsein Kapital schlugen.Tsipras sprach auch als erster Wahlsieger davon, dass der Sieg auch für die Auslandsgriechen insbesondere die jungen AkademikerInnen zu verstehen ist. Die Griechen im Ausland haben aus vielfältigen Gründen Griechenland den Rücken gekehrt, die meisten jedoch, weil es dort aus ökonomischen oder politischen Gründen unerträglich war. Das ist auch ein Signal an die Migranten, die so wie ich, seit Ewigkeiten von den „daheim“ gebliebenen angefeindet werden, nicht ihr Wahlrecht in oder nah an ihrem Wohnsitz ausüben dürfen und auch ein Signal an die Bürger in Griechenland, dass sie nicht nur mit ihrer Stimme für sich selbst sprechen, sondern auch für alle, die es nicht können oder durch Abstinenz ihrem Unmut oder Verzweiflung Ausdruck verleihen möchten. Und es ist auch wieder ein Signal gegen die, die argumentieren, dass wer das Land verlässt, sein Wahlrecht als nicht-Patriot verwirkt. Noch ein Lichtblick.Selbstverständlich ist ein einziger, erster Tag nicht ausschlaggebend für die nächsten vier Jahre, und Symbolpolitik reicht nicht aus, aber es ist der erste Tag seit langer Zeit, an dem die meisten Griechen, sich nicht für ihre Regierung schämen müssen.
10.
Eine letzte Frage: Du sagst, dass der Syriza-Sieg ein wichtiges Signal gegen die
Faschisten und Neonazis ist. Letztere sind jedoch drittstärkste
Kraft im Parlament geworden.
- Ja, aber mit weniger Stimmen als bei der letzten Wahl. Nur in zwei Wahlbezirken in Kavala und Rodopi in Nordgriechenland konnten sie mehr Wähler als bei den letzten Wahlen überzeugen. Jede verlorene Stimme der Neonazis, weckt die Hoffnung, dass auch deren Hirne noch für die Demokratie, Toleranz und die Menschlichkeit eventuell wieder zu gewinnen sind. Und dass ganz nach dem Wahlmotto von Syriza noch Hoffnung für Griechenland besteht.