03.09.2018

Jusqu'à la garde (F 2017) / Nach dem Urteil

Liosporos 2015
Jusqu'à la garde (auf Deutsch "Nach dem Urteil") ist der erste Langfilm von Xavier Legrand, der auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnet. Ich habe viele Psychothriller in meinem Leben gesehen, darin war häusliche Gewalt ein häufiges Motiv. Eine Tote alle drei Tage besagt jedenfalls die offizielle Statistik in Deutschland. So gesehen erzählt der Film eine weitere häufig so im echten Leben abgespielte Geschichte von genderspezifischer Gewalt und zwar diese eines Mannes gegenüber seiner Frau und ihren beiden Kindern.

Der Film fängt mit den ehemaligen sehr gut gecasteten Eheleuten Miriam (Lea Drucker) und Antoine (Denis Menochet) vor Gericht an, den Zeugenaussagen der Kinder und der versteinerten Miene des Gewaltopfers, auch im close up, was später in der Kameraführung öfter vorkommt und die Drama-Komponente des Films klar herausstreicht. Und mit dem Urteil: Der Sohn Julien (11 Jahre alt) wird gegen seinen Willen jedes zweite Wochenende den Vater sehen und nach wenigen Wochen bei ihm und seiner Mutter im Wechselmodell leben.

Nach dem Urteil ist zunächst ein sehr gut gemachter Psychothriller, der die Spannung bis in die letzte Minute aufrecht erhält, die bis dahin mit einigen last minute rescues auskommt. Dafür sorgt die akurate Drehbuch- und Regiearbeit, und die Protagonistenwahl. Denn anders als in vielen Psychothrillern genderspezifischer Gewalt, setzt Legrand Julien (Thomas Gioria) in den Mittelpunkt und nicht die Frau, also das Gewaltopfer selbst, und versetzt den Zuschauer damit in die fast unerträgliche Situation den Blick des Kindes wahrzunehmen. Ein elfjähriger leidender und bedrohter Junge ist als Empathie-Automat für einen Psychothriller gewiss eine geniale Wahl. Und somit wird der Film sicher für viele Zuschauer fast unerträglich sein. Dass Thomas Gioria eine großartige schauspielerische Leistung noch liefert, rundet den Film ab und beschert ihm zu recht einige Preise in vielen Festivals, nicht zu letzt in Venedig und San Sebastián.

Etwas merkwürdig ist die Wahl den Film als Drama unter anderem in der IMDb zu kategorisieren und auch die Tatsache, dass der Film als Rosenkriegfilm teils rezensiert wird. Wenn dies dem geschuldet sein soll, dass verstörenderweise genderspezifische Gewalt als "Elternkonflikt", "Familiendrama" oder ähnlich verharmlosend in Medien oder in der öffentlichen Meinung betitelt wird, dann ist der Film ein weiteres Zeugnis dafür, dass die paralysierende Todesangst, die mit der Ausübung physischer Gewalt von Männern gegenübern Frauen einherkommt, eine einzige Richtung hat und zwar vom Täter zum Opfer. Alle Erklärungsversuche Opfer als Gewaltbeteiligte zu verstehen, müssen entschieden zurück gewiesen werden. Auch nach diesem Zeugnis.

Fazit: Auf die Oscarnominierung!