Bild Athen 2008, Φωτό Αθήνα 2008 |
Urlaub in Athen
von Dinos Christianopulos, 1963
Erzählung
Er entschied sich, die Hälfte seines Urlaubs in Athen zu verbringen. Nicht weil er sich in Athen im Juli so erholen würde, wie er es nötig hatte. Sondern ganz einfach, weil er dort einige von den Leuten wiedersehen würde, die irgendwann sein Leben erfüllt hatten.
Er buchte eine Ein-Stern-Pension in der Nähe der Kathedrale. Er kannte diese Pension aus den Zeiten seines Militärdienstes. Es gefiel ihm dort wegen der familiären Atmosphäre. Nach fünf Stufen hörte man schon das Singen der Kanarienvögel und roch schwer im Magen liegendes orientalisches Essen. Die Pensionsbesitzerin kam aus dem Zimmer mit einer Katze um ihren Hals, sagte mit dem Flair einer alten Puffmutter – „Also aus Saloniki, ha?“, und streichelte ihn am Nacken. „Ich habe auch da mal gelebt, eine schöne Stadt. Aber auch hier wird es dir gut gehen“. Sie merkte schnell, dass er etwas schüchtern war, und schickte ihn in den dritten Stock, da wo sie meistens ruhigen Menschen ein Zimmer gab: In den anderen zwei Etagen gingen es etwas zügelloser zu.
Er legte sich so wie er war, angezogen, aufs
Bett und ging erneut seine Träume durch: Wie er all seine sonstigen Bekannten in Athen
vermeiden würde, in welcher Reihenfolge und wem er seine Besuche abstatten und mit
wem von den drei er einen Ausflug auf die Insel Poros machen würde. Er nahm
sein Notizbuch heraus, schaute sich noch mal die Anschriften an und bejubelte
bereits beim Anblick der Straßennamen, die Orte, in denen er nach drei Jahren
seine Freundschaften erneuern würde.
Früh um elf Uhr nahm er den Bus nach Chalandri. „Zum Gutshof Daskalopulos“, sagte er etwas scheu zu dem Schaffner. Er sah die Neubauten, Villen mit gepflegten Gärten. Er stieg in einem Ort mit großen Landgütern und Gemüsegärten aus. „Wie wird er mich wohl empfangen?“, fragte er sich in Rührung. „Werde ich vielleicht in einer Ecke des Spiegels unser Foto finden, das Foto vom Militärdienst, das wir Arm in Arm machten?“. Er erinnerte sich, dass Dimitris vorletztes Jahr nach Saloniki gekommen war und nach ihm gefragt hatte. Er war aber nicht da und Dimitris hatte ihm daher über seine Mutter ausrichten lassen, „sagen Sie ihm, dass Dimitris aus Chalandri hier war“ und seine Mutter hatte geantwortet, „Ach, bist du es, mein Kind, der auf dem gemeinsamen Foto während des Militärdienstes ist?“. Er wird wohl in einem dieser Gärten arbeiten – und sofort verliebte er sich in diese Landschaft. „Gutshof Daskalopulos“, sah er ein Schild an einer Maschendrahttür. Zwei Seitenwege führten zu den Gärten, und ein Weg in der Mitte in ein kleines, gepflegtes, zweistöckiges Haus. „Was wollen Sie?“, fragte ihn misstrauisch ein fein gekleideter Mann, der nicht wie ein Aufseher aussah. „Ich würde gern Dimitris Loutraris sprechen. Wohnt er hier?“ „Und was wollen Sie von Dimitris Loutraris?“, fragte der fein gekleidete Mann und wiederholte den Vor- und Nachnamen in einem geradezu provokanten Ton. Es kam ihm in den Sinn, ihn zusammenzustauchen und zu gehen. „Wir sind Freunde vom Militärdienst“, antwortete er und die Hitze wurde ihm unerträglich. „Er ist nicht hier. Ich rufe seine Mutter“. Ein einfaches Mütterchen kam aus der Haustür heraus. „Frau Katinió“, rief er sie unaufgeregt eher kühl herbei. (Er muss der Chef gewesen sein). „Ach, mein Kind“, sagte die Frau herzlich, „unser Dimitris ist nicht mehr da, er ist vor zwei Monaten auf die Insel Chios gezogen. Komm doch 'rein, du wirst doch sicher Durst haben“. Er folgte ihr, ohne dem provokanten Herren noch einmal zu danken. Er fühlte sich gezwungen, verschiedene Geschichten vom Militärdienst zu erzählen: Wie er ihm in der Adjutantur aushalf, wie er ein Mal intervenierte, damit er nicht bestraft würde, wie er ihm irgendwann einmal seine amerikanischen Soldatenstiefel borgte. Natürlich gab es kein Foto am Spiegel zu sehen. Er fragte nach Fotos von Dimitris, aber er hatte sie mit nach Chios genommen. Er nahm eine Mastix1 entgegen und wünschte ihr alles Gute. Es gab gar nichts, womit er diesem Mütterchen beweisen könnte, wie enge und liebe Freunde er und ihr Sohn einmal gewesen waren. Als er ging, traf er wieder auf jenen Herren.
Es gab keinen Dimitris im Gutshof
Daskalopulos.
Er brauchte einen ganzen Tag, um sich davon zu erholen. Er würde definitiv auf Poros mit Panajotis fahren. Eigentlich hatte er ohnehin keine Briefe mehr mit Dimitris seit einer gewissen Weile ausgetauscht. Mit Panajotis war das anders. Jedes Mal, wenn er auf dem Umschlag den Stempel des Ausbildungszentrums der schweren Infanterie sah, wusste er, dass sich darin ein zärtliches Wort verbarg.
Er nahm den Bus nach Chaidari um 4 Uhr am
Nachmittag. Um diese Uhrzeit hatten die Offiziere Ausgang, und Panajotis würde ihn
ungestört von den Blicken des Adjutanten empfangen können. Er würde ihn auf
einen Spaziergang zum Botanischen Garten mitnehmen, dann ins Kino und am Abend
nach Hause zum Übernachten. Am nächsten Tag, am Sonntag, in der Früh ein Ausflug nach Poros –
Farben des Saronischen Golfes, Attischer Zauber usw. Dann die müde
Verabschiedung, der andere zurück in die Kaserne, er selbst nach Saloniki – gutgelaunt und optimistisch, da die alte Bindung noch bestehen würde.
Viele Leute standen vor dem Tor: zwei-drei,
die wahrscheinlich Dirnen waren, zwei andere Mädchen, eine alte Arvanitin mit
Kopftuch und einem Korb an der Hand, Kinder die Zitronensäfte und gegrillte
Maiskolben verkauften, Eiswagen mit Eis der Marke EVGA². Die Soldaten waren noch nicht
herausgekommen, nur ein-zwei Unteroffiziere überquerten in jenem Moment das
Tor.
Plötzlich schauderte es ihn: Panajotis mit
einem Mädchen! Mit nagelneuen Klamotten, seiner Ausgangsuniform, mit den
glänzenden goldenen Tressen eines Feldwebels im unbefristeten Dienst; und sie
eher sympathisch, niedlich, mit einem koketten Gang. „Panajotis!“, rief er. Der andere
drehte sich und war ganz überrascht. „Warum hast du mir nicht vorher Bescheid
gegeben, dass du kommst?“, „Du hast Recht“, sagte er und streckte dem Mädchen
seine Hand entgegen. Sie stellten sich dem Mädchen als zwei sehr enge Freunde aus Zeiten des Militärdienstes vor. Sie liefen den Hang mit ihr hinunter, sie zwischen den
Beiden. Jetzt wurden sie von einem Mädchen getrennt. Etwas schien in ihm zu
zerbrechen. Natürlich wurde es nichts mit dem Botanischen Garten, auch nicht
mit Poros. Panajotis taugte nur als Brieffreund.
Sie setzten sich in einer Konditorei in
Ägaleo. Das Tortenstück schmeckte schrecklich. Plötzlich merkte er, wie sein
Gürtel ihm zu eng wurde, und er wollte weinen oder fluchen. Aber nichts von
beidem. Nur vergilbte Erinnerungen vom Militärdienst vor dem Mädchen, Worte,
ein Versuch die Kluft, die sich zwischen ihnen aufgetan hatte, zu überbrücken –
und das Mädchen lächelte und fummelte unverfroren an Panajotis herum. Dann
schlugen sie ihm vor, mit ins Kino zu gehen. Aber er war bereits ein
Nervenbündel; er wünschte ihnen ein schönes Wochenende und versprach, am Montag
wieder vorbeizuschauen.
Er ging weg, gerade wie von einer Trauerfeier.
Am Sonntag blieb er auf dem Zimmer. Er ließ Parthenon und Karolos Koun ausfallen, aß in der Pension, und die Pensionsbesitzerin brachte ihm sogar ein Mal das Essen persönlich, um zu fragen: „Aber was für heftige Sorgen quälen dich, mein Junge?“
Er plante jetzt sorgfältig seinen letzten
Ansturm: Jorgos aus Lepanto. Es verbanden sie keine gemeinsame Erlebnisse während des Militärdienstes, auch kein gemeinsames Foto Arm in Arm oder einen Briefwechsel.
Das letzte Mal, das sie sich verabredet hatten, war er nicht erschienen und war
sich sicher, dass Jorgos ihm das nicht verziehen hatte. Aber seine süße,
jugendliche Stimme erklang immer noch mit der gleichen Intensität in seinen
Ohren: „Falls du nach Athen kommen solltest, vergiss nicht nach Kässariani zu kommen“.
Nur das; nicht etwa „du sollst unbedingt kommen“, auch nicht gerade ein Versprechen einer
rührenden Gastfreundschaft. Er wusste nicht, warum dieses „vergiss nicht“ sehr
herzlich in ihm nachhallte. Er musste also hin und ihm erklären, warum er letztes
Mal nicht erschienen war.
Arionos 27, Kässarianí. Er traf ihn im Krämerladen
seiner Familie, bei der Arbeit, in dem Moment als er Anschovis wog. „Du hast ja
gerade noch gefehlt“, sagte ihm Jorgos, als er ihn sah, mit der rohen
Ehrlichkeit und Intimität der Unterschicht. Er hat ihn auf den einzigen Stuhl
gesetzt und hat weiter gearbeitet. Wie alt er bereits war, wie anders! Sein
kindliches Gesicht war jetzt durch tiefe Falten gezeichnet, seine Augen waren
männlich geworden.
Er nahm ihn mit nach Hause nach Feierabend.
Sie setzten sich in sein Zimmer und sprachen leise, um seinen Onkel nicht zu
stören, den Veteranen, der nebenan las. „Warum warst du damals nicht
erschienen?“, fragte er abrechnend. Er war schockiert über seine Art. „Lass
mich es dir erklären...“. „Was willst du mir erklären? Du hast mich ewig warten
lassen“. „Was ist los?“, der Onkel kam plötzlich herein. „Wer ist der junge
Mann und was will er?“ Seine Schläfen brannten. Jorgos stellte ihn eilig vor.
„Ach so, er ist dieser Freund, der dir zu Ostern ein schönes Buch geschickt
hat? Prima. Mit solchen Jungens solltest du befreundet sein, aber du hältst
dich mittlerweile für einen tollen Hecht.“
Einige peinliche Minuten vergingen.
Unterschwellige Strömungen zogen ihn weit weg von diesem Haus. Dieser Onkel, mit
seinen ständigen Fragen nach dem griechischen Unabhängigkeitskrieg von 1821,
war unerträglich. Aber auch Jorgos hatte einen Gesichtsausdruck, der ihn
entmutigte. Nur sein Name war gleich geblieben, der Rest war bei ihm anders. Er
war nicht mehr der unschuldige Junge aus Nafpaktos, der eine ganze Woche lang
weinte, als er sich von seiner Mutter und Garten trennen musste. Was könnte der
tolle Hecht aus Kässariani mit dem Jungen aus Lepanto gemeinsam haben? Und all
das war in nur zwei Jahren geschehen.
Er verließ Athen ganz verbittert. Er packte seine Reisetasche und schaute sich noch ein Mal im Zimmer um, in dem er vier Nächte verbracht hatte. Kein Dimitris, kein Panajotis, kein Jorgos. Und, natürlich, auch kein Ausflug nach Poros. Nichts. Nur der Moment der Ankunft, als er mit der Kleidung sich hinlegte, um seine Vorfreude in Athen zu genießen.
„Kein Mädel, gell?“, fragte ihn die
Pensionsbesitzerin vieldeutig und zwinkerte ihm zu. „Es ist meine Schuld. Ich
hätte dir ein Zimmer im ersten Stock geben müssen, da hättest du dich richtig
austoben können...“.
Übersetzung Eleni Andrianopulu, Januar 2015
Für meinen Freund De.
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